Ich schreibe gerade einen neuen Jugendroman. Dafür suche ich noch Testleser. Ich poste hier mal den Anfang, dann könnt ihr entscheiden, ob das was für euch ist.
Marquard öffnete die schwere Holztür und ließ den Jungen eintreten. Er ging vollkommen unbedarft voran und Marquard beeilte sich, die Tür wieder zu schließen.
„Das war eine gute Idee von Euch“, sagte der Junge und sah sich in dem geräumigen königlichen Weinkeller um. In den Wänden lagerten hunderte vielversprechende Flaschen, deren Inhalt von zartem Gelb bis tiefem Rot alle Schattierungen umfasste.
„Nehmt Platz, Herr“, sagte Marquard. „Ich suche Euch einen vorzüglichen Tropfen heraus, den Ihr nie vergessen werdet.“
„Ich danke Euch. Ich bin sehr gespannt. Ihr wisst, dass ich noch niemals Wein getrunken habe.“ Der Junge setzte sich auf die blank polierte massive Holzbank, die vor dem Tisch in der Mitte des Raumes stand. Marquard bemerkte, dass der Junge versuchte, Haltung zu bewahren, aber er war erschöpft. Hinter ihm lag ein langer Tag.
„Ab heute werdet Ihr regelmäßig Wein trinken. Bankette gehören zu Euren Pflichten als König. Man erwartet es von Euch.“ Marquard wandte sich der Weinauswahl zu und zog eine Flasche heraus. Es kam nicht wirklich darauf an, welchen Wein er wählte. Der junge König hatte keinen Schimmer von diesen herrlichen Traubensäften. Er nahm zwei Weingläser und trug sie hinüber zum Tisch.
„Bitte erinnert mich nicht an meine Pflichten, Marquard.“
Der Junge sah zu ihm auf, das seidige weiße Hemd schimmerte im Halbdunkel und das Kerzenlicht spiegelte sich in seinen Augen.
„Verzeiht mir. Das hier wird Euch nach all der Aufregung guttun“, sagte Marquard und entkorkte den Wein.
„Ja, es war aufregend. Habe ich Fehler gemacht? Ich habe es nicht bemerkt.“
„Nein, Ihr habt alles richtig gemacht“, sagte Marquard und schenkte den Wein ein.
„Ich bin froh, Euch an meiner Seite zu wissen“, sagte der Junge. „Ich werde Euren Rat brauchen. Diese Aufgabe ist schwer. Ich bin noch jung.“
„Euer Vater war sechzehn, als er den Thron bestieg. Ihr seid kaum jünger. Ihr werdet es schaffen.“ Marquard hob das Glas und der Junge ergriff das seine.
„Auf Euch, mein König“, sagte Marquard. Der Junge lächelte müde und hob das Glas an die Lippen. Für eine Sekunde spürte Marquard den Impuls, ihm den Wein aus der Hand zu schlagen, aber er tat es nicht.
„Oh, interessant“, urteilte der Junge und setzte das Glas wieder ab. „Ich habe mir den Geschmack weniger stark vorgestellt.“
Marquard nickte und lächelte höflich. Dann ging er zur Kellertür, ohne sich darum zu kümmern, ob der junge König ihm mit den Augen folgte. Unterwegs zog er einen Schlüssel aus der Tasche und schloss dann mit einer schnellen Bewegung die Tür ab. Er hatte schon vor Tagen getestet, ob der Schlüssel sich leicht drehen ließ. Das war äußerst wichtig. Nichts durfte schief gehen an diesem Abend. Es hing alles von ihm ab.
„Was tut Ihr da?“, fragte der Junge, und Marquard drehte sich um.
„Ich verschließe die Tür“, antwortete er ruhig. Er sah die Augen des Fünfzehnjährigen, die ihn mit einer Mischung aus Unsicherheit, aufkeimender Furcht und antrainierter Königswürde anblickten. Das goldbraune Haar fiel ihm in die Stirn. Er war noch ein Kind und sollte die Verantwortung eines Mannes tragen. Diese Welt war falsch und verrückt.
„Warum? Was soll das, Marquard? Antwortet!“ Der Junge stand auf und schwankte.
Er stützte sich mit der rechten Hand am Tisch ab. „Ich habe den Wein nicht vertragen. Ruft Friedrich. Er soll mich in mein Schlafgemach bringen.“ Er taumelte ein paar Schritte auf die Tür zu, aber Marquard machte keine Anstalten, ihm zu helfen. Der junge König schaffte es bis zum Ausgang und zog mit beiden Händen an dem eisernen Türgriff. Marquard näherte sich ihm langsam. Sie beide wussten jetzt, dass etwas nicht stimmte. Man musste es nicht aussprechen.
Der Junge brach in die Knie, dann sank er auf den kalten Steinboden. Wieder suchten seine Augen die Marquards, aber jetzt spiegelte sich die Angst darin.
„Sagt mir“, flüsterte er mühsam, „habt Ihr mir Gift gegeben?“
„So etwas Ähnliches“, antwortete Marquard. Der Junge stöhnte und sein Blick flog gehetzt zur Gewölbedecke.
„Wollt Ihr mich töten?“, flüsterte der Junge, und Marquard bewunderte ihn wieder für seine Selbstbeherrschung in dieser Situation. Er geriet nicht in Panik, bewahrte die Würde bis zuletzt.
„Ja“, sagte Marquard.
„Aber ich bin Euer König.“ Seine Stimme war kaum noch zu hören.
„Jetzt nicht mehr“, sagte Marquard. Er beugte sich herab und schob seine Arme unter den Körper des Jungen. Dann hob er ihn hoch und fühlte, wie der Junge in seinem Griff erschlaffte. Marquard trug den Bewusstlosen durch den Weinkeller bis in einen kleinen Nebenraum. Er ging zu einer unscheinbaren Pforte in der Ecke und trat zweimal gegen die Tür. Jemand betätigte einen Riegel von der anderen Seite und zog das Törchen auf. Den Riegel auf der Innenseite hatte Marquard selbst schon in den Morgenstunden geöffnet. Eine gebückte Gestalt in einem Kapuzenmantel huschte herein, ohne Marquard anzusprechen.
„Die Gläser stehen auf dem Tisch. Wirf alles in den See“, sagte Marquard, und die Gestalt murmelte etwas, das er nicht verstand.
Marquard sah sich kurz um, dann schleppte er seinen König im Schatten der mächtigen Mauern durch das Dunkel.
„Marquard“, zischte es aus dem Schatten und er zuckte kurz zusammen. „Hier.“
Petrisas hochgewachsene Gestalt zeichnete sich schemenhaft vor ihm ab. Marquard schlich zu ihr hinüber und gemeinsam hoben sie den schlafenden Jungen auf die Ladefläche des Einspänners, der abfahrbereit auf ihn wartete.
„Fahrt los“, sagte Petrisa. „Wenn der Prinz tot ist, lasst die Taube sofort frei.“
„Ja“, sagte Marquard nur, dann ließ er das Pferd anziehen. Ihm blieb nur wenig Zeit, das sonst streng bewachte Tor zu passieren. Petrisa hatte dafür gesorgt, dass sich die Wachablösung verspätete. Eigentlich konnte nun nichts mehr schief gehen. Das Schlimmste war erledigt.
Nicht ganz, korrigierte sich Marquard. Noch nicht ganz.
Die Räder des Einspänners rollten über Steine und Geäst, aber Marquard spürte kaum eine Erschütterung. Das Gefährt war äußerst geländegängig und stabil und er kam gut voran. Im Matsch steckenzubleiben, wäre eine Katastrophe.
Marquard roch den Duft von Tannennadeln, Moos und schwarzer Erde. Rechts und links an seinem Wagen hingen Öllampen, die schwaches Licht verbreiteten, aber die Nacht war klar und der Mond fast voll. Er konnte den Weg vor sich auch so erkennen.
Seit über zwei Stunden fuhren sie nun, und Marquard hatte mehrmals den Impuls übergangen, anzuhalten und nach dem König zu sehen. Aber jetzt musste er es tun. Und nicht nur das. Der König würde bald aufwachen und Marquard wollte alles vorher erledigen. Leider hatten ihm seine Gedanken immer wieder eine Ausrede geliefert, noch ein wenig zu warten ...
Marquard nahm die Zügel an und das Pferd blieb artig stehen. Für diese Fahrt hatte er ein bewährtes, unerschrockenes Tier ausgewählt.
Marquard drehte sich herum und stieg dann auf die Ladefläche, wo der ehemalige Prinz unter alten Decken verborgen lag. Der Gedanke, dass der Junge während der Fahrt unter all dem Stoff erstickt sein könnte, kam ihm ganz plötzlich und erschreckte ihn. Marquard angelte nach der Laterne und das Licht fiel auf den Lumpenhaufen. Vorsichtig zog er die Stofflagen beiseite. Es war ganz großer Unsinn, dass ihn die Vorstellung, einen Toten aufzudecken, so belastete. Schließlich war er hier, um das Leben des Jungen zu beenden.
Ein blasses, junges Gesicht kam zum Vorschein, und Marquard suchte nach Anzeichen dafür, dass der Knabe noch lebte. Der Lichtschein erhellte das Dunkel aber nur unzureichend. Er konnte nichts Genaues erkennen. Schließlich legte er seine Hand zögerlich auf die Brust des Jungen und dann spürte er ein sanftes Heben und Senken. Er atmete.
„Teufel auch“, entfuhr es Marquard. Er ärgerte sich. Aber worüber? In ihm herrschte das Chaos und er konnte sich nicht die Zeit nehmen, alles in Ordnung zu bringen. Er stand mitten im Wald und es musste getan werden. So einfach war das.
Marquard stellte die Lampe ab und kniete sich neben den Jungen. Er zog ein Messer aus seinem Gürtel. Sein König war nicht der erste Mensch, von dem diese Klinge kosten durfte. Eine schnelle Bewegung und es wäre vorbei. Ein Kehlenschnitt, ein Stich ins Herz ...
Marquard sah die Klinge im Mondschein glänzen. Sie sah kalt aus, aber wenn er sie berührte, würde er die Wärme spüren. Er hatte sie am Körper getragen.
Der junge König tat einen tiefen Atemzug, den Marquard hören konnte. Vielleicht ließ die Wirkung des Schlafmittels nach. Er musste jetzt endlich handeln. Für einen Kehlenschnitt lag sein Opfer in einer ungünstigen Position. Marquard legte das Messer kurz beiseite. Er umfasste den Kopf des Schlafenden. Die Wange des Jungen lag in seiner Handfläche, als er ihn umbette. Ein leises Seufzen löste sich aus der Kehle des frisch gekrönten Königs. Nicht nur das Schlafmittel wirkte auf ihn, sondern auch die Anstrengung eines langen Tages voller Pflichten. Wahrscheinlich hätte er auch ohne Betäubung die ganze Nacht geschlafen, wie ein Welpe nach einem Tobetag im Garten.
Marquard griff wieder zum Messer. Bei einem Kehlenschnitt würde das Blut das seidenweiße Hemd des Jungen rot färben. Er war sich nicht sicher, ob er das sehen wollte. Aber ein Stich ins Herz war nicht weniger schwer auszuhalten.
Er kannte den Prinzen von Kindesbeinen an. Einmal hatte er ihn sogar als Säugling auf dem Arm gehalten. Aber er war auch nur ein Mensch und das Königshaus war verkommen und schlecht. Jeder, der sich zu lange dort aufhielt, musste an Gier und Geltungssucht erkranken. Da war er keine Ausnahme. Trotzdem steckte Marquard das Messer in den Gürtel zurück. Die Lumpen hatten ihn auf eine bessere, unblutige Idee gebracht. Er ergriff einen Stofflappen und knüllte ihn zusammen. Dann drückte er das Knäuel dem Jungen auf Mund und Nase. Er wartete und die Zeit schien stillzustehen. Das Pferd scharrte mit dem Vorderhuf, als ob es merkte, was auf dem Wagen vor sich ging. Marquard hielt das Tuch weiter fest und die Atemwege verschlossen. Wie lange musste er das tun, bis der Atem endgültig aussetzte? Er hatte noch nie jemanden erstickt. Das Pferd begann zu tänzeln und dann zog es plötzlich an. Marquard fluchte und ließ das Tuch los, um den Gaul anzuhalten. Er hatte noch nicht nach den Zügeln gegriffen, als das Pferd wieder stehenblieb. Er warf einen Blick zu dem Knaben und kontrollierte seine Atmung. Seine Brust hob und senkte sich. Es hatte nicht gereicht, der Junge atmete weiter. Marquard fluchte und fuhr sich durchs Haar. Es war so schwierig! Ganz anders, als er es sich vorgestellt hatte. Wenn er es tat, konnte er es nicht mehr rückgängig machen. Und das war eben so schwer. Nicht die Entführung, nicht der Plan, den sie geschmiedet hatten. Das war Hochverrat, aber immerhin hatte es etwas ... Theoretisches. Etwas von Menschen Definiertes. Aber tot war tot. Es gab keine Auslegung, es war organisch, wahrhaftig, endgültig.
Marquard setzte sich wieder auf den Kutschbock. Er würde noch etwas weiter in den Wald fahren und darüber nachdenken, was das Beste war. Das Pferd schnaubte bestätigend, als er die Zügel auf seinen Rücken fallen ließ. Der Wagen setzte sich in Bewegung und Marquards Gedanken auch. Petrisa erwartete sicher, dass er bald die Taube freiließ, die unter einem Tuch in einem Käfig auf dem Wagen untergebracht war. Aber er konnte das jetzt noch nicht tun. Er brauchte erst einen Plan. Marquard schaute zum Mond hinauf und plötzlich fiel ihm etwas ein, das funktionieren konnte.
Das Feuer prasselte und knackte. Marquard legte noch ein paar trockene Äste nach und warf einen Blick auf den schlafenden Jungen neben sich. Er hatte ihn auf ein paar Decken neben das Feuer gelegt und dann zugedeckt. Seine Hände fühlten sich kalt an. Das war Marquard aufgefallen, als er die Handgelenke des Jungen fesselte. Die Lederzügel des Fahrgeschirrs hatten dafür herhalten müssen. Von jedem Handgelenk führte ein Lederstrang zu einem jungen Baum, sodass der Gefangene sich in der Mitte halbwegs frei bewegen konnte, aber es war ihm unmöglich, einen Baum zu erreichen, um die Fessel zu lösen, oder mit der einen Hand die andere zu befreien. Unter diesen Umständen keine schlechte Idee.
Aber noch schlief der Junge und wusste nichts von seiner Situation. Marquard wünschte sich fast, er würde zu sich kommen, damit sich diese unangenehme Spannung auflöste, die sich in ihm aufgebaut hatte. Es gab jetzt einen neuen Plan, falls der junge König sich darauf einließ.
Marquard aß etwas Brot und trank Wasser aus einem Lederschlauch. Hinter sich hörte er das Pferd friedlich grasen. Er hatte es in der Nähe des kleinen Bachlaufs angebunden, den er entdeckt hatte. Die perfekte Stelle zum Rasten.
Der Junge seufzte und bewegte sich unter der Decke. Marquard stand auf und kniete sich neben ihn. Im Feuerschein sah er die noch geschlossenen Augen mit den dunklen Wimpern. Die hatte er von seiner Mutter. Eindeutig. Wieder seufzte er und dann stöhnte er leise. Bestimmt brauchte er eine Weile, um wirklich zu sich zu kommen, sodass eine Diskussion möglich war. Marquard übte sich in Geduld und als der Junge endlich blinzelte, benetzte er seine Hand mit etwas Wasser und fuhr ihm damit über die Stirn.
„Wacht auf“, sagte Marquard. Er klopfte ihm leicht auf die Wange. Eine Geste, die er noch vor Stunden niemals ungestraft hätte ausführen können. Aber jetzt war alles anders.
„Was ...“, flüsterte der Junge. „Was macht Ihr ...“ Ihm fielen die Augen wieder zu und Marquard träufelte kühles Wasser auf seine Stirn. Sein Gefangener machte eine unwirsche Geste und versuchte, das Wasser abzuwischen. Die Fessel stoppte ihn mitten in der Bewegung und langsam drang die Erkenntnis zu ihm durch, dass etwas nicht stimmte.
„Wo habt Ihr mich hingebracht?“, flüsterte er und blinzelte. Anscheinend kam die Erinnerung zurück. Er drehte den Kopf, um etwas von seiner Umgebung zu erkennen.
„Fort“, sagte Marquard.
„Ich weiß, was Ihr vorhabt“, sagte der Junge leise. „Ihr liefert mich unseren Feinden aus. Was zahlen sie dafür?“
„Ihr irrt Euch“, sagte Marquard. „Ich rette gerade Euer Leben. Kommt, trinkt etwas Wasser.“ Er schob seine Hand unter den Nacken des Königs und hob ihn leicht an. Er flößte ihm Wasser ein und sah die Schluckbewegungen an seinem Hals. Marquard war froh, dass er diese Kehle vor Stunden nicht durchgeschnitten hatte.
„Ihr habt gesagt, Ihr wollt mich töten.“ Seine Stimme klang noch rau vom langen Schlaf, aber seine Gedanken hatte der König halbwegs wieder im Griff.
„Das ist richtig. Aber ich habe mich entschieden, Euch noch eine andere Möglichkeit anzubieten. Es ist Eure Entscheidung. Andernfalls muss ich Euch leider töten.“
„Ich bin der König. Wenn Ihr mich tötet, dann sterbt Ihr auch.“
„Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Ich handele im Auftrag. Sie planen Euer Ableben schon länger.“
„Wer?“
„Personen, die Interesse an Eurem Thron haben. Wer sonst?“
„Und Ihr seid daran beteiligt?“ Braune Augen sahen zu ihm auf, und Marquard fühlte sich auf einmal unwohl.
„Sie haben mich überzeugt.“
„Wie viel zahlen sie Euch?“
„Sehr viel, mein König. Und mir blieb keine Wahl.“
„Wieso nicht?“
„Weil sie es sowieso getan hätten. Ihr seid noch jung und leicht zu beseitigen. Es wäre früher oder später geschehen. Auf irgendeine Weise.“
„Und so habt Ihr wenigstens noch Vorteile für Euch herausgeschlagen. Das ist unehrenhaft“, sagte der Junge.
„Da mögt Ihr recht haben“, sagte Marquard.
„Natürlich habe ich recht. Ich bin Euer König. Auch dann noch, wenn Ihr mich tötet. Und Ihr seid ein Verräter.“ Er versuchte sich aufzurichten und zog an seinen Fesseln. „Bindet mich los, Marquard. Ich befehle es Euch!“
„Nein, mein König. Es müsste Euch klar sein, dass ich das nicht tue. Ihr solltet Euch niederlegen und ausruhen. Wir brechen früh auf.“
„Wohin? Was habt Ihr vor? Ich verlange eine Antwort!“ Wieder riss der Junge an den Lederriemen und Marquard stellte zufrieden fest, dass seine Fesseln ihren Zweck erfüllten.
„Schont Eure Kräfte. Das ist mein Rat“, sagte Marquard und ging zu dem Wagen. Er würde die Taube jetzt frei lassen. Sein Plan stand fest. Nur heute Nacht war der König nicht zugänglich für Argumente. Er musste sich erst mit seiner Lage anfreunden, bevor Marquard ihm seine Idee vermitteln konnte.
Marquard war in aller Frühe aufgebrochen. Er hatte nur kurze Zeit geruht, hatte stets den Jungen im Auge behalten, der erst Stunden später wieder der Erschöpfung erlegen und in Schlaf gefallen war. Es war ein schweres Stück Arbeit gewesen, den Jungen auf den Wagen zu schaffen und dort festzubinden. Natürlich hatte er sich gewehrt und Marquard hatte ihm schließlich gedroht, dass er ihn neben der Kutsche herlaufen lassen würde. Diese Drohung schien erstaunlicherweise Eindruck auf den König zu machen, denn er gab nach. Marquard vermutete, dass sein Stolz ihn davon abhielt, weiter Ärger zu machen. Es wäre auch zu demütigend, wie ein Sklave dem Wagen zu Fuß folgen zu müssen.
Jetzt saß er mit verbundenen Augen hinter Marquard auf einem Deckenstapel. Da er nichts sehen konnte, wusste er nicht, ob Marquard ihn gerade im Blick hatte. Heimliche Befreiungsversuche waren somit ausgeschlossen. Anfangs hatte er noch an den Riemen gezerrt, die seine Handgelenke an den Wagen fesselten, aber als Marquard die Möglichkeit erwähnte, ihn doch zu Fuß laufen zu lassen, hörte der Junge damit auf.
Der Weg wurde besser und das Pferd trabte munter voran. Marquard dachte daran, dass sie auf dem Schloss jetzt bald das Fehlen ihres Monarchen bemerken würden. Spätestens wenn der Kammerdiener das Schlafgemach betrat. Die Taube war auch schon bei Petrisa angekommen, wenn kein Habicht sie unterwegs geholt hatte.
„Ich verlange zu wissen, wohin Ihr mich bringt“, sagte der Junge und Marquard schaute kurz über die Schulter.
„An einen Ort, an dem Ihr leben könnt.“
„Was meint Ihr damit?“
„Ich bringe Euch an einen Ort, der Euch keine Möglichkeit lässt, wieder nach Hause zurückzukehren. Ihr habt dann die Wahl, Euch mit Eurem Schicksal anzufreunden und Euer neues Leben anzunehmen oder eben nicht.“
„Es ist wegen der drei Tage, nicht wahr? Ihr habt keine Zeit verloren“, sagte der junge König.
„So ist es“, bestätigte Marquard. Er hörte, wie sein Gefangener wütend an den Riemen riss.
„Hört auf damit oder Ihr geht zu Fuß“, sagte Marquard ruhig.
„Das wagt Ihr nicht! Ihr droht nur immer wieder damit.“
„Lasst es auf einen Versuch ankommen.“
„Ihr seid ein Verräter! Ihr verliert Euren Kopf, wenn das bekannt wird!“
„Ihr droht aus Eurer Hilflosigkeit heraus, mein Prinz.“
„Ich bin jetzt König! Was untersteht Ihr Euch, mich so zu nennen!“
Marquard seufzte. „Freundet Euch mit Eurer Situation an, mein König. Das ist das Beste für Euch. Glaubt mir.“
Marquard fuhr schweigend weiter in der Hoffnung, der Junge würde Ruhe geben, aber eine halbe Stunde später riss ihm doch der Geduldsfaden. Er hielt das Pferd an, stieg zu dem sich echauffierenden Gefangenen und löste den komplizierten Knoten.
„Was tut Ihr da?“, fragte der Junge alarmiert.
„Ihr geht zu Fuß. Das wird Euren Übermut zügeln“, sagte Marquard.
„Untersteht Euch! Ich werde keinen einzigen Schritt gehen! Und Ihr werdet mich nicht hinter Euch herschleifen wie Vieh!“
„Ich sagte schon, lasst es auf einen Versuch ankommen. Es war Eure Entscheidung.“ Marquard zog den sich sträubenden Fünfzehnjährigen von der Ladefläche und band den Riemen am Kutschbock fest. Er löste die Augenbinde und das wütende Feuer in den braunen Augen traf ihn mit voller Wucht. Der König stand kurz vorm Explodieren. Er war eine solche Behandlung nicht gewöhnt, aber Marquard dachte sich, dass es das Beste war, ihn tüchtig müde zu machen. Das würde ihm einen ruhigen Abend bescheren.
Er bestieg die Kutsche wieder und ließ das Pferd lostraben. Der junge König warf sich in die Riemen, aber er wurde unbarmherzig mitgeschleift, und es blieb ihm nichts anderes übrig, als unter Schimpfen und Drohen das Tempo zu halten.
Gegen Mittag hielt Marquard wieder an einem Fließgewässer, um das Pferd zu tränken.
Der König wirkte etwas außer Atem. Er lehnte sich gegen die Kutsche und mied Marquards Blick.
„Ihr solltet etwas Wasser trinken“, sagte Marquard und hielt ihm den Wasserschlauch entgegen. Er wartete, aber der König reagierte nicht auf sein Angebot. Er hielt den Kopf in atemloser Wut gesenkt. Das Haar fiel ihm in die Stirn und seine ganze Gestalt war von Staub bedeckt.
„Lasst Euren Stolz beiseite und trinkt“, riet ihm Marquard. Als keine Antwort kam, steckte Marquard den Lederbeutel kommentarlos weg. Der Junge schielte danach und Marquard stellte sich vor, wie durstig er sein musste. Er selbst hatte brennenden Durst und der König lief seit Stunden in der warmen Sonne dem Wagen hinterher. Aber jetzt Wasser von seinem Entführer anzunehmen bedeutete, die Demütigung zu vollenden. Diese Situation war mit Blick auf sein bisheriges Leben und seine Erziehung kaum zu ertragen. Am Hof genoss der Junge den maximalen Respekt von jedem; kaum war es erlaubt, den Blick auf seine Person zu richten, geschweige denn, ihn anzusprechen. Es war das, was er kannte. Und jetzt wurde er wie ein beliebiger Bauer behandelt, den man beim Stehlen erwischt hatte.
Marquard schöpfte Wasser und kühlte die Beine des Pferdes. Er kontrollierte die Hufe auf eingetretene Steine, dann stieg er wieder auf den Wagen. Er drehte sich zu dem jungen König um.
„Habt Ihr es Euch überlegt? Wir fahren jetzt stundenlang weiter und werden nicht mehr anhalten. Trinkt etwas.“ Marquard gab ihm einige Atemzüge Zeit, zu antworten. Dann ließ er den Wagen anfahren, ohne sich noch mal umzudrehen.
Die Sonne senkte sich schon leicht über die Bäume, als Marquard das Pferd wieder stoppte. Er hatte keine große Wahl, er musste seinen Rastplatz nahe einer Wasserquelle wählen und er konnte nicht sicher sein, ob er eine weitere fand, wenn er bis in die Nacht hinein fuhr. Außerdem brauchte das Pferd Ruhe. Marquard sprang auf den Weg herab und begann, das Pferd auszuspannen. Ein leises Geräusch hinter ihm ließ ihn sich umsehen. Der König war auf die Erde gesunken. Marquard nahm den Wasserschlauch und ging neben dem Jungen in die Knie. Er hob seinen Kopf an und hielt ihm den Wasserschlauch an die Lippen.
„Ihr müsst jetzt trinken. Ihr verdurstet“, sagte Marquard. Der Junge hielt die Lippen geschlossen und fand sogar die Kraft, den Kopf wegzudrehen. Er wollte sich nicht gebrochen zeigen, auch wenn er vor Erschöpfung fast ohnmächtig wurde.
„Schon gut“, sagte Marquard sanft. „Ihr habt Euch nicht gebeugt, wie ein richtiger König es getan hätte. Ich gebe zu, dass ich nicht gedacht hätte, dass Ihr so lange durchhaltet.“
Braune Augen blickten zu ihm auf. Marquard ließ etwas Wasser über die trockenen Lippen fließen und dann schluckte der Junge endlich. Mit gefesselten Händen riss er Marquard den Wasserschlauch aus der Hand und trank gierig.
„Nicht so schnell“, sagte Marquard. „Kommt, ich helfe Euch zum Bach hinunter. Sicher wollt Ihr Euch waschen.“
Er zog den Jungen auf die Füße, dann löste er seine Fesseln. Staub bedeckte die geschundene Haut an den Handgelenken.
„Das solltet Ihr gründlich abspülen“, sagte Marquard.
„Lasst mich. Ich brauche Eure Hilfe nicht“, kam die abweisende Antwort. Der junge König schleppte sich mühsam zu dem dahinplätschernden Bächlein und sank am Ufer nieder. Er streifte die Stiefel ab und ließ seine wunden Füße in das kalte Wasser gleiten.
Marquard behielt ihn im Auge, während er das Pferd ausspannte. Er musste ihn gleich wieder fesseln, sonst würde er davonlaufen. Ohne Schuhe und im erschöpften Zustand war die Gefahr nicht so hoch. Er sah, wie der Junge sich mit langsamen, fast resignierten Bewegungen den Staub abwusch. Er schöpfte mit den Händen kühles Wasser und trank. Dann sank er nach hinten ins Gras. Die Füße ließ er im Bach hängen. Marquard band das Pferd an einem Baum an und es senkte sofort den Kopf, um zu trinken. Dann begann es, das frische Grün am Ufer abzurupfen. Marquard näherte sich dem reglos daliegenden Jungen langsam und dann legte er schnell einen Lederriemen um sein Handgelenk.
„Ihr verzeiht, aber es geht nicht anders“, sagte Marquard, als er den Riemen festzog. Er hatte mit Gegenwehr gerechnet, aber nichts dergleichen geschah.
„Ihr werdet dafür eines Tages hängen. Das schwöre ich“, sagte der Junge ruhig. Er öffnete nicht die Augen, während er sprach, und obwohl sich Marquard sicher war, dass dieser Junge nie wieder etwas gegen ihn ausrichten konnte, beschlich ihn ein leises Unbehagen. Keine Frage, er hatte einen König entführt, der eines Tages sein Reich fest im Griff gehabt hätte. Er war nur zu jung an die Macht gekommen, zu einem falschen Zeitpunkt und hatte die falschen Leute um sich gehabt. Und er selbst – Marquard – war einer dieser falschen Leute. Er fesselte seinen Gefangenen diesmal zwischen der Kutsche und einem Baum, in derselben Manier wie in der Nacht zuvor. Der junge König ertrug auch diese Demütigung schweigend und mit so viel Würde, wie es unter diesen Umständen noch möglich war. Marquard konnte ein Gefühl der Bewunderung nicht unterdrücken.
„Ich werde Euch etwas zum Essen bringen“, sagte Marquard.
„Ich werde nichts essen“, antwortete der Junge.
„Aber Ihr müsst hungrig sein.“
„Ich nehme kein Essen an von einem Verräter.“
„Wie Ihr wollt.“
Marquard ging, um kleine Äste für das Feuer aufzuschichten. Sein Gefangener lag auf den Decken, die er für ihn ausgebreitet hatte, und als Marquard das nächste Mal nach ihm sah, schien er fest zu schlafen. Der lange Marsch hatte ihn ermüdet. Marquard aß ein leichtes Abendessen und legte sich dann ebenfalls zu Ruhe. Er musste die Schlafphase des Jungen unbedingt ausnutzen, um selbst neue Kraft zu schöpfen.